Ein bestandskräftiger Bescheid kann grundsätzlich nur geändert werden, wenn eine Änderungsvorschrift greift.
Der Kläger im Urteilsfall war als Einzelhändler tätig und ermittelte seinen Gewinn im Wege der Einnahmenüberschussrechnung. Das Finanzamt veranlagte ihn erklärungsgemäß. In einer Außenprüfung stellte das Finanzamt fest, dass die Aufzeichnungen formell mangelhaft wären. Daher habe eine Hinzuschätzung durch Sicherheitszuschlag i. H. v. 10 % der Barerlöse zu erfolgen. Das Finanzamt änderte dementsprechend die Bescheide über Einkommen- und Umsatzsteuer sowie über den Gewerbesteuermessbetrag für 2013 bis 2015 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO bzw. § 164 Abs. 2 AO.
Dagegen legte der Kläger erst Einspruch und dann Klage beim FG ein, welches dem Kläger teilweise Recht gab. Gegen dieses Urteil legte wiederum das Finanzamt Revision ein.
Der BFH hat die Revision als begründet angesehen, das FG-Urteil insoweit aufgehoben und die Sache an das FG zurückverwiesen:
- § 4 Abs. 3 EStG enthält zwar keine Verpflichtung zur förmlichen Aufzeichnung der Betriebseinnahmen und Betriebsausgaben, eine ordnungsgemäße Einnahmenüberschussrechnung setzt aber voraus, dass ihre Höhe durch Belege nachgewiesen wird (BFH-Urteile vom 12.12.2017, VIII R 6/14, BFH/NV 2018, 606, Rz. 54 und vom 12.02.2020, X R 8/18, BFH/NV 2020, 1045, Rz. 20).
- Ist die Art und Weise der Führung der Aufzeichnungen erst nachträglich bekannt geworden, ist das FA grundsätzlich zu einer Änderung der bestandskräftigen Bescheide nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO (neue Tatsachen) berechtigt.
- Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Regelung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO eine Änderung bestandskräftiger (Einkommen-)Steuerbescheide im Nachgang zu einer Außenprüfung nur dann zulasse, wenn sicher feststehe, dass der Steuerpflichtige Betriebseinnahmen nicht aufgezeichnet hat.
- Sowohl bei Verletzung der Aufbewahrungspflicht als auch bei Verletzung der Aufzeichnungspflicht ist das FA dem Grunde nach zur Schätzung gem. § 162 Abs. 1 und 2 AO berechtigt (BFH-Urteil vom 26.02.2004, XI R 25/02, BStBl 2004 II S. 599, unter II.1.e).
- Das FG muss im zweiten Rechtsgang prüfen, ob die die Voraussetzungen für eine Hinzuschätzung von Betriebseinnahmen aufgrund der festgestellten Mängel vorliegen.
Der BFH hält fest, dass rechtfertigender Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft nach § 173 AO nicht die Unrichtigkeit der Steuerfestsetzung sei, sondern der Umstand, dass das Finanzamt bei seiner Entscheidung im Rahmen der Veranlagung von einem unvollständigen Sachverhalt ausgegangen sei.
Tatsache i. S. d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist alles, was Merkmal oder Teilstück eines gesetzlichen Steuertatbestands sein kann, also Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art. Keine Tatsachen in diesem Sinne sind Schlussfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen.
Die Art und Weise, in der der Steuerpflichtige seine Aufzeichnungen geführt hat, ist laut BFH eine Tatsache i. S. d. § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO. Dies gilt für Aufzeichnungen über den Wareneingang gem. § 143 AO ebenso wie für sonstige Aufzeichnungen oder die übrige Belegsammlung eines Steuerpflichtigen, der seinen Gewinn nach § 4 Abs. 3 EStG ermittelt.
Weitere Voraussetzung für die Änderungsmöglichkeit nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist das nachträgliche Bekanntwerden der Tatsache. Sie muss schon bei Erlass des ursprünglichen Bescheids vorhanden gewesen sein, so dass sie vom Finanzamt bei umfassender Kenntnis des Sachverhalts hätte berücksichtigt werden können. Da das Finanzamt im Streitfall erst durch die Außenprüfung vom Inhalt der Aufzeichnungen erfahren hat, sei diese Voraussetzung erfüllt.
Die nachträglich bekanntgewordene Tatsache muss auch rechtserheblich sein, d. h. das Finanzamt wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer anderen Steuer gelangt.
Sind diese Voraussetzungen erfüllt, kann auch die Art und Weise der Führung von Aufzeichnungen eine neue Tatsache sein, die zur Änderung eines Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO befugt.